Diagnostik von mitochondrialen Encephalomyopathien bedingt durch Atmungskettendefekte

Modifiziert nach Deufel T, Mönch E, Paetzke I, et al.

Weitere Informationen siehe auch Deutsches Ärzteblatt

Als HTML oder PDF

Einleitung

Mitochondriale Encephalomyopathien sind degenerative Krankheiten, die auf einer Unfähigkeit, den zellulären Energiebedarf zu decken, beruhen.  Diese ist häufig progredient.  In Abhängigkeit vom unterschiedlichen Energiebedarf der Gewebe und von gewebespezifischer Ausprägung des Defektes kommt es bei Unterschreiten einer bestimmten Energieproduktion zu vielfältigen biochemischen und klinischen Symptomen. Diese Empfehlungen beziehen sich nur auf Defekte der Atmungskette (OMIM 252010, 220110, 252011)  und des Pyruvatdehydrogenase-Komplexes (OMIM 312170). 

Biochemische Grundlagen

Der Pyruvatdehydrogenase(PDH-)komplex ist das Bindeglied zwischen Glycolyse und Citratzyklus und ermöglicht die oxidative Decarboxylierung von Pyruvat zu Acetyl-CoA.  Der PDH-Komplex benötigt Thiamin und Liponsäure als Cofaktoren.

Die mitochondriale Atmungskette besteht aus fünf Enzymkomplexen in der inneren Mitochondrienmembran (Komplex 1: NADH.Ubichinon-Oxidoreduktase; Komplex 11: Succinat.,Ubichinon-Oxidoreduktase; Komplex 111: Ubichinon-Ferrocytochrom c Oxidoreduktase; Komplex IV.  Cytochrom c-Oxidase; Komplex V.- ATP-Synthase), die Flavinnucleotide, Häm, Eisen und Kupfer enthalten und durch mobile Carrier, Coenzym Q und Cytochrom c, verbunden sind. Die vollständige Oxidation eines Glucosemoleküls zu CO2 und H20 (Glycolyse, Pyruvatdecarboxylierung, Citronensäurezyklus, Atmungskette) liefert 38 Moleküle ATP. Unter anaeroben Bedingungen endet der Glucoseabbau beim Lactat und liefert nur 2 ATP-Moleküle pro Molekül Glucose.  Jede Störung der Atmungskette oder des Pyruvatdehydrogenasekomplexes führt daher zu einem Mangel an ATP und einer erhöhten Lactatproduktion.

Genetik

Die Gene für die verschiedenen Untereinheiten des Pyruvatdehydrogenasekomplexes liegen im Zellkern. Die überwiegende Zahl der Defekte betrifft El. Beschriebene Mutationen sind meist Neumutationen (X-chromosomaler Erbgang) belegt.  Die Defekte in den anderen Untereinheiten werden autosomal-rezessiv vererbt und sind sehr selten.

Mitochondrien besitzen einen eigenen genetischen Apparat (mtDNA), mit Genen für 7 von mindestens 40 Polypeptiden des Komplex I, für Cytochrom b von Komplex III, für 3 von 13 Polypeptiden von Komplex IV und für 2 von mindestens 14 Polypeptiden von Komplex V und für 22 Transfer-Ribonukleinsäuren (tRNA) 2 ribosomale Ribonukleinsäuren (rRNA) sowie für den Replikations- und Transkriptionsprozeß der mtDNA.  Die Gene aller anderen Untereinheiten, einschließlich des vollständigen Komplex 11 befinden sich im Zellkern.

Defekte der mitochondrialen Atmungskette können entstehen durch:

Mutationen der nukleären DNA (NDNA) und betreffen

a)         Gene für Atmungskettenkomplexuntereinheiten

b)         Übergeordnete Gene (z.B. sog. Assemblierungsgene): COX10, SCO1, SCO2, SURF1

Mutationen der mtDNA, die maternal vererbt werden (Punktmutationen) bzw. sporadisch auftreten (Deletionen, Duplikationen).

MtDNA-Veränderungen lassen sich wie folgt einteilen.  Sie können mit bestimmten Krankheitsbildern assoziiert auftreten:

mtDNA-Insertionen-Deletionen:

z.B. Kearns-Sayre-Syndrorn (KSS) (OMIM 530000)

Chronische progrediente externe Ophthalmoplegie (CPEO) (OMIM 157640 604005) Pearson Syndrom (OMIM 557000)

mtDNA Punktmutationen:

in Atmungskettengenen

z.B. Lebersche hereditäre Optikus-Neuropathie (LHON) (OMIM 535000) Neuropathie, Ataxie und Retinitis pigmentosa (NARP) (OMIM 551500) oder

in tRNA-Genen

z.B. Mitochondriale Encephalomyopathie, Lactatazidose und Schlaganfallähnliche Episoden (MELAS) (OMIM 590050)

Myoklonusepilepsie mit ragged red fibres (MERRF) (OMIM 590060)

mitochondrialer Diabetes mellitus mit Taubheit (520000)

Multiple mtDNA-Deletionen:

Autosomal-dominante CPEO (OMIM 601227)

Mitochondriale Neuropathie, gastrointestinale Störungen, Encephalopathie (MNGIE) (OMIM 550900)

mtDNA-Depletion (Quantitative mtDNA-Abnormalität mit fast vollständigem Fehlen in betroffenen Organen) (OMIM 251880).

Symptome

Betroffen sind bevorzugt Organe mit hohem Energiebedarf bzw. Sauerstoffverbrauch (Zentralnervensystem, Skelettmuskel, Retina, Herz, Niere, Leber).  Die Verdachtsdiagnose "mitochondriale Stoffwechselstörung" resultiert aus dem Befall multipler Organsysteme, für den kein anderer pathophysiologischer Zusammenhang festzustellen ist.  Die einzelnen Symptome und Befunde sind unspezifisch und in der Regel nicht beweisend.  Wichtige Organsysteme wie Skelettmuskel, ZNS, Auge, Gehör, Herz, Niere, Leber müssen systematisch geprüft werden.

Altersabhängig finden sich folgende Krankheitsbilder (nach Munnich, 1995)

Neugeborene/Säuglinge:

-          angebotene Lactatacidose mit Encephalomyopathie

-          schwere sideroblastische Anämie mit Neutropenie, Thrombopenie und exokriner Pankreasinsuffizienz

-          konzentrische hypertrophe Cardiomyopathie und Myopathie;

-          Schwere Hepatopathie mit Lactatacidose und gegebenenfalls proximaler Tubulopathie.

-          Hypertrophe Cardioencephalomyopathie  (OMIM 604272, 604377)

Säuglinge und Kinder bis 2 Jahre:

-          rasch progrediente Encephalomyopathie mit cerebellärer Ataxie, pyramidalen und extrapyramidalen Bewegungsstörungen, psychomotorischer Regression gelegentlich mit proximaler Tubulopathie und/oder hypertropher Cardiomyopathie

-          subakute nekrotisierende Encephalomyelopathie (LEIGH-Syndrom) (OMIM 256000)

-          Hypertrophe Cardioencephalomyopathie  (OMIM 604272, 604377)

-          viele Organsysteme können betroffen sein: Muskulatur, Herz, Niere, Zentralnervensystem, Sinnesorgane, endokrine Organe. Minderwuchs mit hypertropher Cardiomyopathie, sensorineuraler Taubheit und Retinitis pigmentosa; oder unerklärliche Gedeihstörung mit Minderwuchs.

Kinder und Erwachsene:

-          Myopathien mit Muskelschwäche, Muskelschmerzen und Belastungsintoleranz mit oder ohne CPEO;

-          progrediente externe Ophthalmoplegie (PEO) mit fließenden Übergängen zum KSS;

-          progrediente Encephalomyopathien mit typischen zusätzlichen Symptomen (MERRF, MELAS, NARP, MNGIE);

-          LHON (in der Regel ohne Encephalomyopathie);

Untersuchungsgang

Klinisch:

Eingehende klinische, neurologische und radiologische Untersuchung mit detaillierter Dokumentation, einschließlich HNO- und augenärztlicher Untersuchung.

Klinisch-chemisch:

Von zentraler Bedeutung ist die Bestimmung des Lactatspiegels im Blut, gegebenenfalls auch im Liquor. Der Blutlactatspiegel sollte mehrfach zu unterschiedlichen Zeitpunkten, am besten als 24-Stunden-Tagesprofil, gemessen werden.  Die diagnostische Sensitivität des Lactats im Spontanurin ist demgegenüber deutlich geringer; eine deutlich erhöhte Ausscheidung kann allerdings die Signifikanz einer Hyperlactatämie überzeugend bestätigen.

Da auch die Ketonkörperoxidation gestört sein kann, empfiehlt sich eine gleichzeitige Abnahme von Lactat, Pyruvat, 3-Hydroxybutyrat und Acetoacetat sowohl prae- als postprandial (eine Stunde).  Die Wiederholung der Bestimmung nach einer Mahlzeit kommt einer Kohlenhydratbelastung gleich.

Bei der Blutabnahme von Lactat ist körperliche Ruhe wichtig sowie unbedingt die Einhaltung der Vorschriften des jeweiligen Laboratoriums!

Insbesondere bei krisenartigen Erstmanifestationen sollten außer Blut für die Lactatbestimmung gleichzeitig die entsprechenden Proben für Glucose, Blutgasanalyse, Pyruvat, Ketonkörper, freie Fettsäuren und Carnitin entnommen sowie eine Urinprobe eingefroren werden.  Die Urinprobe ist für die Messung organischer Säuren bestimmt und trägt mit den Ergebnissen der zuvor genannten Bestimmungen zur Differentialdiagnose zu organischen Acidurien und Fettsäureoxidationsstörungen bei.

Gegebenenfalls ist eine tubuläre Funktionsdiagnostik mit Bestimmung von Ausscheidung, Clearance bzw.  Reabsorption von Phosphat, Glucose, Aminosäuren angezeigt.

Apparative Diagnostik:

EKG, Sonographie (u.a. Herz), EEG, neurophysiologische Untersuchungen (auditorisch, visuell evozierte Potentiale, Nervenleitgeschwindigkeit). Bildgebende Verfahren: Computertomographie, Kernspintomographie, Protonenmagnetresonanzspektroskopie.

Funktionsdiagnostik (bei gegebener Indikation):

Kohlenhydrat-(Glucose)belastung mit (bzw. prä- und postprandiale) Bestimmung von Lactat, Pyruvat, Glucose (Cave PDH-Defekte!).

Ergometrie mit Blutlactatbestimmung

Phosphormagnetresonanzspektroskopie insbesondere des Muskels.

5

Muskelbiopsie:

Grundsätzlich am Ende des diagnostischen Vorgehens!

Der Skelettmuskel ist das am besten geeignete Gewebe für die Diagnostik.  Eine postmortale Muskelgewebsentnahme ist bis zu einer Stunde nach dem Tode möglich.  Gewinnung von genügend Material für morphologische, enzymatische, molekulargenetische und polarographische Untersuchungen erfordert in der Regel eine offene Biopsie oder mehrere Nadelbiopsien.

Das Biopsiematerial ist nach vorheriger Rücksprache mit den untersuchenden Laboratorien aufzuteilen für unterschiedliche Bearbeitungen:

1. Fixierung für die Lichtmikroskopie: ragged red fibres (RRF), Faseratrophie, feintropfige Fettspeicherung;

2. Fixierung für die Elektronenmikroskopie: Mitochondrienzahl und -morphologie;

3. Tieffrieren in flüssigem Stickstoff und Lagerung bei -80'C für Enzymhistochemie: Cytochrom c-Oxidase, Succinatdehydrogenase, ATPase; Immunhistochemie: Poly- und monoklonale Antikörper gegen Atmungskettenpolypeptide; Messung von Enzymaktivitäten; Molekulargenetische Untersuchungen;

4. Sofortige Isolierung von Mitochondrien für die polarographische Messung der Sauerstoffaufnahme und Messung der Oxidationsgeschwindigkeit nach Zusatz verschiedener Substrate bzw.  Atmungskettenhemmstoffe (Methode nur an wenigen Orten verfügbar, sehr aufwendig in Bezug auf Material und Personal, aber geeignet, am selben Tag Informationen über die Funktionsfähigkeit der Atmungskette bzw. der oxidativen Phosphorylierung zu liefern).Die Messung von Enzymaktivitäten ist auch in Leber-, Niere-, Myokardbiopsien, in Fibroblastenkulturen und peripheren Blutlymphozyten möglich. Allerdings existieren für viele Gewebe keine verläßlichen Normalwerte.

Fibroblastenkulturen sollten von allen Patienten, nach Vorschrift des jeweiligen Laboratoriums, (auch noch bis 24 Stunden nach dem Tode) angelegt werden.

Myoblastenkulturen sollten ebenfalls von allen Patienten, nach Vorschrift des jeweiligen Laboratoriums, (auch noch bis 24 Stunden nach dem Tode) angelegt werden.

Molekulargenetik:

Geeignetes Material sind Vollblut (EDTA), Fibroblasten, Muskelbiopsien, gegebenenfalls andere Gewebe.

Gesucht wird nach Punktmutationen, Deletionen oder Duplikationen der mtDNA bzw. nach Mutationen der nukleären DNA (z.B. SCO2 und SURF1 Mutationen bei Cytochrom-c-Oxidase Mangel).

Therapie:

Eine überarbeitete Therapieliste folgt in Kürze (PD Dr. E Willichowski)

Update

21/11/00 Michaela